Dienstag, 24. März 2020

Von Selbstmördern, Nachtgestalten und Wasserleichen - Der Friedhof der Namenlosen

Fährt man den so genannten Handelskai entlang, vorbei an dem imposanten Wasserkraftwerk Freudenau, so wird man rasch auf das Ortsschild „Albern“ treffen. Dieser kleine Fischerort, der seit vielen Jahrzehnten schon ein Teil des elften Wiener Gemeindebezirks ist, beherbergt neben dem wenig malerischen Hafengelände auch einen der ausgefallensten und unheimlichsten Plätze der Stadt: Den Friedhof der Namenlosen. Selbstmörder liegen dort genauso begraben, wie in der Donau Verunglückte, und auch zumindest ein Mordopfer, der kleine Wilhelm Töhn, hat an diesem Platz seine letzte Ruhestätte gefunden.
Der Tod hat eine lange Tradition in dieser Gegend, nicht nur, weil dort die Donau durch eine Laune der Natur ihre Toten seit jeher freigegeben hat. Auch vom „sich töten“, vom freiwilligen Scheiden aus dem Leben durch entsetzliche Verzweiflung und Not, weiß dieser Ort zu erzählen. Immer wieder mussten Erhängte von den Bäumen rund um den Friedhof abgeschnitten werden, einer sogar von dem schmiedeeisernen Gitter der Kapelle. Und selbst der Totengräber fand eines Tages seinen Sohn auf diese Weise aus dem Leben geschieden.
Wie aber hat man sich diesen seltsamen Friedhof nun vorzustellen?
Nun, eigentlich sind es zwei Friedhöfe, kaum zehn Meter voneinander entfernt. Getrennt durch einen Schienenstrang und eine Zufahrtsstrasse, die auf den Parkplatz des nahen Gasthauses führt, läd der neue Friedhof der Namenlosen samt Kapelle zur Andacht ein. Wenige Stufen muss man von der Kapelle hinabsteigen, liest vielleicht die Zeilen von Graf Wickenburg, der diesem Ort ein Gedicht gewidmet hat. Dann tritt man zwischen die Gräberreihen. Und tatsächlich – hier scheint die Zeit still zu stehen.
Trotz Hafen, Industrie und Gaststätte ist es seltsam ruhig, Schmetterlinge tanzen zwischen den eisernen Kreuzen. An einigen der alten Bäume, die den Friedhof begrenzen, hängen Andachtsbilder, da und dort findet sich eine ausgebrannte Kerze in dem gräulichen Lehmboden. Die Gräber sind einfach gehalten, auf einigen liegt Blumenschmuck, meist aber wuchert nur üppiges Grün aus den Erdhügeln. Grabsteine gibt es kaum. Die einst hölzernen Kreuze wurden von Josef Fuchs sen., dem letzten Totengräber von Albern, durch gusseiserne ersetzt, die ursprünglich vom Wiener Zentralfriedhof stammen. Eine kleines hölzernes Häuschen fällt auf, das jedem Besucher einen gruseligen Blick in sein Inneres gewährt: Auf dem Tisch in der Mitte steht ein Sarg. Der ist allerdings leer, wie Josef Fuchs jun. amüsiert betont, schon seit Jahren wird niemand mehr auf dem Friedhof der Namenlosen beerdigt. Kommt es tatsächlich zu einem Leichenfund in der Donau, wird der tote Körper dem Wiener Zentralfriedhof übergeben.
Eine der Besonderheiten des Friedhofes liegt wohl darin, dass er nicht durch Mauern oder Zäune begrenzt wird. Jeder kann jederzeit eintreten - ein Umstand, der Herrn Fuchs und anderen ehrenamtlichen Helfern zuweilen Kopfzerbrechen bereitet, denn Vandalenakte bleiben nicht aus. Im Jahr 2007 beispielsweise kam es wieder zu mutwilliger Zerstörung, Kreuze wurden umgeworfen, Gräber beschädigt.
Nur ein im Jahre 1935 erbauter steinerner Wall, welcher im Zuge der Erhöhung des Schutzdammes, und der Errichtung der Andachtskapelle realisiert wurde, grenzen den Friedhof sichtbar gegen das üppige Grün der Au ab. Der Altarstein der Kapelle stammt übrigens aus den Trümmern der „Kronprinz – Rudolf Brücke“, der alten Reichsbrücke, die in Anlehnung an das traurige Schicksal des Thronfolgers auch gerne als „Selbstmord – Brücke“ bezeichnet wurde. 
104 Tote wurden zwischen 1900, dem Jahr der Eröffnung des neuen namenlosen Friedhofes und 1940 hier beerdigt, der Letzte war ein Hafenarbeiter aus Deutschland. Mit dem Ausbau des Hafengeländes 1939 verschwand der Wasserstrudel (bei Stromkilometer 1918,3), welcher die toten Körper regelmäßig an dieser Stelle an Land spülte, der Friedhof verlor an Bedeutung, wurde mehr und mehr zu einem Überbleibsel, einem Kuriosum.
Der ältere Teil, auf der anderen Seite der Zufahrt, ist als Friedhof heute nicht mehr existent. Ein Hort der Namenlosen zu sein, trifft auf diesen Platz sehr viel mehr zu. Im Gegensatz zu dem neuen Friedhof ist über die Toten hier tatsächlich nichts bekannt, kein Stein, keine Inschrift gibt mehr Auskunft. Die Pläne der Gemeinde Wien, eine Exhumierung der 478 bekannten Grabstätten durchzuführen, sind ebenso in Vergessenheit geraten, wie die Gräber selbst. Wie viele Mensche dort tatsächlich im Laufe der Zeit begraben wurden, ist zudem unklar. Bis zu 3000 werden in alten Aufzeichnungen erwähnt.
Erst in jüngster Vergangenheit wurde der alte Teil des Friedhofes für immer unter einer Asphaltdecke begraben - wer seinen Wagen nun dort parkt, parkt auf Gräbern.
Der ursprüngliche Friedhof wurde im Jahre 1854 angelegt und sollte schlicht die Körper der Toten aufnehmen, welche die Donau freigab. Da viele der Leichen Selbstmörder gewesen waren, verbot man sich ein kirchliches Begräbnis, Priester gab es in Albern keinen. 1877 wurde der Friedhof vergrößert, eine hölzerne Leichenhalle gebaut, die Regelungen zur Bestattung verbessert. Man hob Kleider und Gegenstände von Wert auf, um eine mögliche Identifikation der Toten auch in späteren Jahren zu ermöglichen.
„Die Donau holt sich ihre Toten immer zurück.“
Hinter diesen, von Einheimischen immer noch gebrauchten Worten, steht die Tatsache der wiederkehrenden Überschwemmungen, die trotz Flussregulierung und Schutzwall auch vor dem Friedhofsgelände nicht halt machten. 1899 beschloss man, den ursprünglichen Friedhof, der sehr nahe am Wasser gelegen war, und so wie der Ort Albern selbst immer wieder Überschwemmungen zum Opfer fiel, aufzugeben. Ein denkwürdiges Beispiel, wie sich solche Katastrophen zugetragen haben mochten, lieferte das Jahrhunderthochwasser im Jahre 2002. Das gesamte Friedhofsgelände, alt und neu, wurde überflutet. Es gelang nur mit Mühe bis zum Friedhof vorzudringen, das Hafenareal musste gesperrt werden. Das Gräberfeld selbst war verschwunden. Nur noch die Spitzen der Eisenkreuze lugten aus dem schmutzig braunen Wasser. In diesem Sommer hatte die Donau ihre Toten tatsächlich heimgesucht.
Wie sehr der Friedhof der Namenlosen an Popularität gewonnen hat, beweist ein nächtlicher Besuch in der warmen Jahreszeit. Oft trifft man Neugierige, Interessierte, Abenteuerlustige, aber auch Verzweifelte, und einsame Gestalten, die hier ihren Frieden suchen, zumindest für einen Augenblick. Seit der Friedhof auch als Kulisse für eine Szene des Filmes “Before Sunrise”, mit Ethan Hawke diente, finden auch einige Touristen ihren Weg dorthin.
Und Geister? Die soll es hier tatsächlich geben.
Viele Geschichten ranken sich um den Friedhof der Namenlosen, eine der bekanntesten wird in dem Buch “Spuk in Wien” neu erzählt. Sie handelt von der unerfüllten Liebe des Arnold Moser, der seine verlorene Geliebte erst als alter Mann wieder finden sollte - Jahrzehnte zuvor hatte sie sich in den kalten Fluten der Donau das Leben genommen.
Schließlich aber wird es wieder ruhig auf dem kleinen Friedhof, die Kerzen verlöschen, auch die letzten Besucher ziehen sich zurück. Einige Stunden ist den Toten nun Ruhe gegönnt, bis der Morgen anbricht und die Namenlosen ihre nächsten Besuche empfangen. Menschen die dieses Kuriosum staunend betrachten, einen wohligen Schauer genießen und befriedigt ihrer Wege gehen, Wege die alle an ähnlichen Orten enden, irgendwann.

Montag, 23. März 2020

Der einarmige Diener

Im Jahre 1915 war der Enthusiasmus, mit welchem man ein Jahr zuvor in den großen Krieg gezogen war, bereits einer gewissen Ernüchterung gewichen. Immer mehr Männer, die mit strahlenden Gesichtern, und kleinen Blumensträussen an den Gewehren, direkt an die Front marschiert waren, kamen nun als Invaliden aus dem Feld zurück - desillusioniert und ihrer Eigenständigkeit beraubt. Das industrialisierte Töten wurde auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges zunehmend der Perfektion zugeführt, und ließ ein Heer der Versehrten entstehen, welches die Gesellschaft sowohl wirtschaftlich als auch sozial zu fordern begann. "Ich habe gegen das weit verbreitete Vorurteil, dass der Einarmige nur als Portier, Aufseher etc. zu verwenden sei, seit Ausbruch des Krieges gekämpft", schrieb Geza Zichy, der aufgrund eines Jagdunfalls in Jugendjahren selbst einen Arm verloren hatte. Trotz dieser Beeinträchtigung wurde Zichy unter anderem von Franz Liszt zum Pianisten ausgebildet, und erarbeitete sich eine Karriere als Musiker und Komponist, der sechs Opern, sowie eine Vielzahl anderer Musikstücke entsprangen. Kriegsversehrten sollte auf diese Weise ein Vorbild gegeben, und Hoffnung gespendet werden.
Als die Zahl der Verwundeten im Laufe des Krieges unaufhaltsam anwuchs, ließ Zichy seine Erfahrungen und Techniken in die Ausbildung dieser Menschen verstärkt einfließen.
Die Bildserie "Der einarmige Diener" zeigt das Bestreben, Kriegsinvaliden wieder in die Gesellschaft einzugliedern, und beschreibt den drastischen Einfluss des Krieges auf den Einzelnen ebenso, wie auf eine ganze Gesellschaft.
Der Originaltext lautet:
"Bild 1: Er bürstet die Kleider, indem er dieselben auf den Tisch legt und durch den Druck seines Leibes festhält.
Bild 2: Der Diener serviert. Er trägt die Platte an einer breiten, starken Gurte, an deren beiden Enden Eisenhaken, sogenannte Karabiner befestigt sind. Diese Karabiner sind beiderseits in die Henkel der Platte eingehakt. Seine Hand ist frei, er öffnet und schließt die Türe.
Bild 3: Er reinigt die Schuhe mit Beihülfe eines Stockes, dessen unterer Teil in das Mittelstück des Stiefelholzes befestigt ist. Der obere Teil des Stockes endet in seiner Krücke. Durch das Anpressen des Oberarmes wird der Schuh gehalten.
Bild 4: Er kann auch bedienen, indem er die Platte auf die Kredenz stellt, die Karabiner aufklappt, und Schalen oder Schüsseln durch die Bewegung seiner Finger auf die flache Hand schiebt.
Bild 5: Er reinigt das Esszeug mit Beihilfe eines Schraubstockes."

Samstag, 21. März 2020



Das Ambergersche Familienrad

"Ganz anders sieht es in unseren Tagen auf einer Strasse aus, als zu Großvaters Zeiten, wo höchstens ein Leiterwagen, ein Lastwagen, eine Postkalesche, oder ein Bauer, hie und da ein Reiter, oder die Fußgänger dahinzogen", schrieb ein aufmerksamer Beobachter im Jahr 1900 über die rasante Entwicklung des Straßenverkehrs in Wien. "Heute fahren viele elegante Wagen, öfters bereits Automobile, diese originellen Fahrzeuge der nächsten Zukunft, und vor allem hunderte von Zweirädern, denn das Bicyle hat sich thatsächlich die Welt erobert."

Erobert hatte sich das Zweirad allerdings auch den weiblichen Anteil der Bevölkerung - nicht unbedingt zur Freude einer von Zwängen und Konventionen durchsetzten Gesellschaft, deren doppelbödige Moralvorstellungen allerlei seltsame Blüten trieben. Trotzdem ließ sich die Weiblichkeit nicht aufhalten, erfand auch gleich eigene Radröcke, und wurde kurzerhand mobil. Um nun die Familie nicht künstlich zu entzweien, mussten neue, innovative Lösungsansätze her, von denen einer es tatsächlich auf die Strassen Wiens geschafft hat:
"Mama und Papa radeln mit ihren Sprösslingen ins Freie", war unter der Werbeschrift des "Familienrades" zu lesen. Johann Amberger, der Erfinder des Vehikels, betonte, dass ein solches Rad niemals umfallen könne, und ganz leicht auch in ein Geschäftsrad umzuwandeln sei, indem "anstelle eines Kinderkorbes ein Geschäftskorb, oder eine Kiste einzuhängen sei."
Auch wenn dem Ambergerschen  Familienrad letztlich kein dauerhafter Erfolg beschieden war - man trifft sie noch, die entfernten Verwandten dieser seltenen Spezies. Im Prater beispielsweise, auf der Hauptallee, finden sich im Sommer unzählige Rikschas. Und nicht selten sind es Mamas und Papas, die so mit ihren Sprösslingen ins Freie radeln.

Donnerstag, 19. März 2020


Was aus dem Äußeren Burgtor niemals wurde

Immer wieder hatte es im Laufe seines Bestehens Überlegungen gegeben, das Äußere Burgtor aus dem architektonischen Gesamtkonzept der Wiener Hofburg zu tilgen, oder - wenn man sich aus Respekt vor dem "Guten Kaiser Franz", zu einer Schleifung schon nicht durchringen konnte - es zumindest grundlegenden Änderungen zu unterwerfen. Besonders in der Francisco-Josephinischen Zeit nahm die Idee, sich des Heldentores, im Zuge der Bautätigkeiten an der Neuen Wiener Hofburg unauffällig zu entledigen, gefährlich konkrete Form an. Wie wir heute wissen, steht es aber immer noch.
Diese architektonische Hartnäckigkeit verdanken wir der niemals gelösten Frage, ob ein monumentales Zeichen des Sieges über Napoleon auch knapp hundert Jahre später noch seinen Zweck erfülle, oder, ob man gar etwas anderes, etwas besseres, daraus hätte machen können.
Im Jahr 1910 jedenfalls wälzte man eifrig Pläne, das "schwerfällig und unmotiviert dastehende Tor", wie es hieß, in das Gesamtkonzept der stetig wachsenden Wiener Hofburg einzuarbeiten.
"Namentlich wenn später einmal an der Volksgartenseite der geplante zweite Palastflügel der neuen Hofburg zum Ausbau gelangt, wird sich von den Hofstallungen bis zum alten Leopoldinischen Trakte des Kaiserschlosses ein ungeheures Viereck von Palastfassaden darbieten, in dessen Längsachse das als Triumphbogen zum architektonischen Träger des Habsburger-Monuments adaptierte Äußere Burgtor förmlich neue Lebensberechtigung erhalten wird", schrieb man euphorisch.
Gekrönt hätte diese triumphale Umgestaltung übrigens eine monumentale Statue Rudolf I., des Begründers der berühmten Dynastie. Pikanter Weise war darüber hinaus eine ebenso monumentale Einweihung für 1918 bereits vorgesehen - also für jenes Jahr, in welchem das System Habsburg seinem endgültigen Untergang entgegenschritt.
Das Bild aus dem Jahre 1910 zeigt eine seltene Photomontage des Äußeren Burgtors, überhöht durch das Denkmal Rudolfs I. und als Teil der, ebenfalls niemals fertiggestellten, Neuen Burg.

Dienstag, 17. März 2020


Das fahrbare Kino
In den Tagen des ersten Weltkrieges konnte man auch in Wien allerlei seltsamer Dinge ansichtig werden. Flugzeuge wurden mit Pferdefuhrwerken über die Ringstraße transportiert, und Straßenbahnen für den Lebensmitteltransport zweckentfremdet.
Von den vielen Technologien, die damals vorangetrieben wurden, um das Töten auf den Schlachtfeldern zu industrialisieren, unterscheidet sich das fahrbare Kino in wohltuend ungefährlicher Weise. Organisiert wurde der rollende Filmspaß auf drei Wägen:
Der Erste enthielt einen Dynamo zur Stromerzeugung, der Zweite den Projektorständer und den Lampenkasten, der dritte Wagen beherbergte den Filmkasten.
Der Begleittext lautet: "In diesem Kriege ist alles fahrbar geworden, von der Gulaschkanone angefangen, bis zum zahnärztlichen Ordinationszimmer. Warum sollte man nicht auch ein fahrbares Kino herstellen? Das Kino ist die beliebteste, und in gewissem Sinne auch harmloseste Unterhaltungsstätte der breiten Massen.."

Montag, 9. März 2020




Sada Vasdov - Die Blume von Delhi

Neben dem Amusement versprach der Wiener Prater seinen Besuchern stets auch das Exzentrische, das in vielerlei Hinsicht Außergewöhnliche. Sada Vasdov, die "Blume von Delhi", darf dieser Kategorie angerechnet werden, und das wohl aus unterschiedlichen Gründen. Die exotische Schönheit präsentierte sich im Jahre 1911 auf einer Wiener Schaubühne mit Riesenschlange, und versetzte das staunende (überwiegend männliche) Publikum immer wieder in Entzücken.
Gerüchte, ob dieser Künstlerin, hatte es schon länger gegeben, letztlich musste sich der Besitzer des Vergnügungsetablissements allerdings zähneknirschend eingestehen, mit der schönen Sada in Wirklichkeit einen aus Berlin stammenden Damenimitator eingestellt zu haben, welcher sich (in seiner männlichen Form) zuvor schon einmal erfolglos in Wien beworben hatte. Da die Blume von Delhi allerdings auch nach Bekanntwerden dieser Hintergründe überaus erfolgreich blieb, sah man über den kleinen Unterschied hinweg, und verzichtete auf rechtliche Schritte.  Sada Vasdov blieb die indische Schönheit - mit Berliner Akzent.

Sonntag, 8. März 2020


Theresia Kandl - Die schönste Mörderin von Wien

Die Kandlkapelle
Von den meisten Verbrechern der guten alten Zeit hat sich kaum mehr erhalten als ein Mythos, Geschichten, die von späteren Generationen immer wieder auf- und umgeschrieben wurden. Im Fall der Theresia Kandl ist das anders. Man kann durchaus sagen, dass nicht nur das Kandlersche Verbrechen die Zeiten in diversen Überlieferungen überdauerte, sondern auch die Kandlin selbst, ausgestellt in einem großen Schaukasten, der immer noch in Wien existiert. Die schöne Resi brachte es durch ihre Untat als erste Frau in Wien bis an den Galgen, und bescherte den Wienern durch ihre Hinrichtung ein Volksfest sondergleichen, welches mit “Galgenbier” und “Arme Sünder Würstel” feucht - fröhlich begangen wurde.


Gerade einmal dreiundzwanzig Jahre jung, zeigte die Resi durchaus Lebensfreude, verbunden mit einer zunehmenden Antipathie gegen ihren, um viele Jahre älteren Gatten Matthias, der von Spaß und Lebenslust nichts wissen wollte. Später führte Therese das Unvermögen des alten Kandl, Kinder in die Welt zu setzen, als einen der Gründe für den Mord an, Geiz und vor allem die Rohheiten, welche der Kandl seiner widerspenstigen Frau angedeihen ließ, sollten weitere Ursachen gewesen sein.  
Auskhoiden hob i´s nimma”, schluchzte die Theresia im Vernehmungszimmer, als Gerichtskommissär Seißer nach unzähligen Verhören endlich ans Ziel gekommen war. Immer wieder habe er sie geschlagen, beteuerte die Theres, oft war er betrunken und bösartig. Da fasste sie im Winter 1808 den Entschluss. Es war der neunzehnte Dezember und der Kandl wie so oft betrunken. Missmutig war er vom Einkaufen heim gekommen, hatte seiner Frau lustlos noch ein paar Schläge angedroht und sich schließlich schlafen gelegt. Als sie ihn wie gewohnt schnarchen hörte, brachte die vor Wut bebende Therese die Axt aus dem Keller, schlich ins eheliche Schlafgemach, und zertrümmerte ihrem Mann den Schädel. Zugeschlagen habe sie mehrmals, gab die Theresia an, richtig in Rage sei sie gekommen.
Diese “Rage” deckte sich durchaus mit der Leichenbeschau durch den Wundarzt, welcher nicht weniger als zehn teils tödliche, teils mindere Wunden” feststellte. Doch als das Werk vollbracht, der Rausch abgeklungen war, da bekam sie es mit der Angst. Wie den Körper verschwinden lassen, wie alles vertuschen? Tatsächlich hatte der alte Seißer seine Zweifel an der Geschichte, denn die am hohen Markt eingegangene Meldung besagte, “daß in der Piaristengasse an der Mauer beym Tempel eine Mannsperson erschlagen und der Kleydung beraubt worden seye..Im heutigen Wien ist besagte Gasse Teil des achten Wiener Gemeindebezirkes, Theresia aber wohnte am Hungelgrund Nummer 9, zum Salzküffel. Solch klingende Adressen existieren in Wien heute kaum noch, allerdings lässt sich feststellen, dass Familie Kandl in Matzleinsdorf gelebt hat, einige Kilometer vom Fundort der Leiche entfernt.


Wer also hat dir geholfen, Theres”, fragte der Kommissär forsch. Die Kandlin aber schwieg eisern. Dass man überhaupt auf sie gekommen war, hatte sie dem Bäckermeister Josef Werner aus Heiligenstadt zu verdanken, der zwar nicht unmittelbar mit den Eheleuten bekannt war, doch geschäftliche Kontakte zum Kaufmann Kandl unterhielt, und von der Therese nichts Gutes zu berichten wusste. So habe er auf dem Gang noch vor der Einvernahme gehört, dass Theresia gleich nach dem Tod ihres Mannes dessen Pfeife an ihren Bruder verschenkt habe.  Was Seißer und die anderen Magistratspersonen allerdings mehr interessierte, war das Gerücht, die Kandlin würde es mit einem Fleischer aus Mauer halten.
Glaubt man den Protokollen, war Therese Kandl eine überaus attraktive Person: Von schlanker Leibesstatur hat sie ein langliches, sauberes Gesicht, schöne Nase, blaue Augen und blonde, rückwärts in einen Chignon geschlungene Haare.” In einer weitere Passage heißt es: ..trägt am Leibe ein blaulicht mit weißen Tupfen versehenes Korsett, einen rot, mit weißen Tupfen versehenen kotonenen Rock, ein leinenes, geblümtes sowie ein blau - mußlinenes Tüchel um den Hals, weiße Strümpfe und schwarze, lederne Schuhe.”
Das Wesen der Frau wird als sanftmütig beschrieben, stets um Contenance bemüht - zumindest solange bis der Name Michel Pellmann fiel.
Was war mit dem Fleischhauer”, fragte Seißer, der mittlerweile Recherchen hatte anstellen lassen .
Therese, die bisher als Duldnerin aufgetreten war und des Schicksals schwere Schläge tapfer zu ertragen schien, wurde unruhig. Zweifellos hatte der Kommissär die Veränderung an Theresia bemerkt, und beschloss, die Katze aus dem Sack zu lassen:
Das Kind ist doch vom Pellmann”, sagte er. “Gib zu deine Schand!”
Laut den Gerichtsakten begann die Kandlin zu toben und verhielt sich ihrem Gegenüber dermaßen respektlos, dass sie von einem Polizeidiener gewaltsam entfernt werden musste. Theresia verbrachte ihre erste Nacht im Gefängnis, am nächsten Tag wurde das Verhör fortgesetzt. Tatsächlich hatte die junge Frau noch vor der Hochzeit mit dem alten Kandl ein uneheliches Kind zur Welt gebracht, dessen Vater nicht eruiert werden konnte. Das Kind verstarb bereits Wochen nach der Geburt, die Schande aber blieb an Theresia haften. Eine Hochzeit sollte die Gefallene wieder rein waschen. In den kommenden Verhören belastete Therese den Michel schwer, er habe die Tat geplant und ausgeführt, sie sei nur Mitwisserin gewesen. Ihn zu befragen gestaltete sich indes als schwierig, denn Pellmann war zum Militär gegangen und seine Stationierung im Kriegsjahr 1809 nicht leicht auszumachen. Endlich aber konnte er nach seiner Rückkehr in Mauer vernommen werden und ein sicheres Alibi angeben. Mehr, als dass er mit der Resi vor und nach der Eheschließung sündig umgegangen wäre, konnte man ihm nicht nachweisen.
Der Pellmann war´s nicht”, sagte Seißer erbost, “also wer hat dir geholfen?”
Diese Frage blieb ungelöst. Allerdings legte Theresia ein umfangreiches Geständnis ab, konnte genaue Angaben zum Tathergang machen, und im Zuge einer Hausdurchsuchung wurde auch das Tatwerkzeug gefunden, welches noch heute im Kriminalmuseum bestaunt werden kann. Mehr als ein paar Blutspritzer im Schlafzimmer und ein blutverschmierter Anzug waren von dem Ehegatten nicht geblieben.
Das Skelett der Theresia Kandl
Den hatte die Therese übrigens in einer stürmischen Winternacht quer durch Wien geschleppt, in einer großen Butte, die sie auf dem Rücken trug. Ein klein wenig Ironie mag jene gruselige Nacht in Form eines freundlichen Polizisten erhellt haben, der durch Zufall Theresias Weg kreuzte, und bemerkte, an welch schwerer Last die schöne Wienerin trug.  Höflich machte er der jungen Frau seine Aufwartung, und rückte die Butte auf ihrem Rücken wieder zurecht, ohne einen Blick hineingetan zu haben.
In der Piaristengasse aber war Schluss. Einen gut durchdachten Plan zur Beseitigung der sterblichen Überreste hatte die erschöpfte Theresia ohnehin niemals verfolgt, sie ließ den alten Kandl hinter einer Hausecke schlicht in den Schnee gleiten, vergewisserte sich, unentdeckt geblieben zu sein, und eilte rasch davon.


Die Theresia Kandl soll wegen Meuchelmordes nach Vorschrift des Paragraph 119 des Gesetzes über Verbrechen mit dem Tode bestraft und diese Strafe gemäß des Paragraphen 10 ebensaselbst an ihr mit dem Strange vollzogen werden.”


Am 3. März 1809 wurde das Urteil vom Appellationsgericht bestätigt. Dem Tode zuvor kam aber noch die Schande. Am 13 März stand Theresia am Pranger, wurde am Hohen Markt ausgestellt, bespuckt, beschimpft, begafft. Man gab sie dem Mob preis.
Gantz Wien war auf den Beynen”, notiert Anton Ferdinand von Geusau in seinem “Historischen Tagebuche” von 1809: Da man in Wien noch keine Weibsperson hatte hängen sehen, war der Zulauf des Volkes unbeschreiblich!”.


Zum Ablauf der Exekution existieren mehrere Beschreibungen. Als gesichert kann gelten, dass die Hinrichtung unter ungewöhnlich großen Sicherheitsvorkehrungen durchgeführt wurde. Dreihundertzweiunddreißig Mann Kavallerie und Infanterie wurden am 16. März aufgeboten um für Ordnung zu sorgen, bei der berüchtigten “Spinnerin am Kreuz”. Schon in den frühen Morgenstunden war der offene Malefiz - Wagen am Hohen Markt abgefahren, rumpelte durch die engen Gassen der Stadt, ließ Häuser und Plätze endlich hinter sich, um gegen 10 Uhr sein  Ziel zu erreichen. Gespannt wartete man auf die schöne Mörderin mit den “kaiserblauen” Augen, und dem langen, blonden Haar. Schreckensbleich soll sie laut Protokoll gewesen sein, aber aufrecht und gefasst. Bevor der “Freymann” ihr die Schlinge um den zarten Hals legte, soll sie sich noch einmal umgesehen haben. Letzte Worte gab es keine. Einem Gerücht zufolge, welches die vom Tod seit jeher faszinierten Wiener dankbar aufgriffen, habe sich der Pellmann Michel unter den Wachsoldaten befunden, die der Hinrichtung beiwohnten. Ihn habe sie gesucht, wurde noch Jahre später erzählt, selbst als die Schlinge sich schon zuzog, wanderten die kaiserblauen Augen rastlos über die Menge. Tatsächlich lässt sich die Anwesenheit oder auch nur der  Aufenthaltsort Pellmanns nicht eruieren. Wahrscheinlicher ist wohl, dass Theresia ihrem Schicksal alleine gegenüber trat.

Eine andere Version der Vorgänge rund um die  “Spinnerin” zollt der Delinquentin weit weniger Respekt. Chaotisch und schamlos soll es zugegangen sein, Theresia selbst habe die Stimmung auf dem Weg zum Galgen mit Ausrufen wie:  “Jessas, mei Haub´n “ und “Sö, mein Schuach verlier´ i! Hörn´S net?” noch zusätzlich angeheizt, und dem johlenden Publikum so einen unvergesslichen Tag beschert.
Bis sechs Uhr abends hatte sie zu hängen, erst bei Einbruch der Dunkelheit durfte man sie von rechts wegen abnehmen und am “Selbstmörderfleck” ehrlos begraben. Es ist davon auszugehen, dass das Fest der Schaulustigen am Richtplatz sehr viel länger gedauert hat.
Das Wiener Kriminalmuseum
Einen letzten Gruß gab man der von Unglück geriebenen Familie Kandl mit auf den Weg in die Ewigkeit. In Atzgersdorf wurde an der Ecke Breitenfurterstrasse/Hödlgasse die Kandlkapelle errichtet. Heute befindet sich das schmucke Bauwerk mit dreieckigen Grundriss auf der Höhe des Campingplatzes Wien Süd (gegenüber Breitenfurterstrasse 198) und steht unter Denkmalschutz.
Ruhe wurde der schönsten Mörderin Wiens  dennoch nicht gegönnt. Schon bald grub man Theresia heimlich wieder aus, und verkaufte die sterblichen Überreste an einen Arzt, der ihr Skelett konservierte. Damals wie heute gegen das Gesetz, in Zeiten der Phrenologie jedoch nicht ungewöhnlich. Bemerkenswert erscheint vielmehr, dass das Präparat bis ins Jahr 1924 in der Familie des Arztes nachweisbar ist. Schließlich fand der Kasten seinen Weg in das Wiener Kriminalmuseum. Dort teilte sich Theresia die Aufmerksamkeit der Besucher mit dem Schädel jener Frau, die beinah ein Jahrhundert später als nächste weibliche Gewalttäterin exekutiert werden sollte: Juliana Hummel, der schweren Misshandlung und des Mordes an ihrer eigenen Tochter Anna für schuldig befunden. Selbst der sonst so milde Kaiser Franz Joseph verzichtete in diesem speziellen Fall auf eine Umwandlung der Todesstrafe in Haft. Juliana Hummel beendete ihr Leben allerdings hinter Gefängnismauern. Die Zeiten öffentliche Hinrichtungen waren vorbei.